Home > Touren & Treffen > Grenzerfahrung > Etappe 17
Diese Etappe hatte ursprünglich eine Distanz von knapp sechzig Kilometer, letztendlich wurden es traumhafte dreihundert Kilometer. Da wir an unserem Etappenziel in Bad Hindelang keine offiziellen Termine wahrzunehmen hatten, spielte die Zeit diesmal auch keine entscheidende Rolle.
Wir brachen gegen acht Uhr unser Lager in Füssen ab und - den gestrigen Tag und die Verkehrssituation schon völlig vergessen - fuhren erstmal südwärts in Richtung Reutte, weil wir das Ötztal besuchen wollten. Ja, es war wieder die B 179 und ja, es wurde genauso voll wie gestern - bloß dies mal fuhren wir der Blechlawine nicht entgegen, sondern waren Teil davon. Jetzt rächte sich, dass ich mich zuvor über die österreichischen Verkehrsvorschriften für Motorräder nicht informiert hatte, denn mir war nicht klar, ob ich hätte am Stau vorbeifahren dürfen bzw. was es gekostet hätte, falls wir erwischt worden wären. Also blieb ich die meiste Zeit brav hinter dem Vordermann im Stau.
Dafür ist ein Motorrad aber nicht gemacht und so bogen wir in Bichlbach nach rechts ab und hielten uns in Richtung Namloser Tal am Kelmer Sattel (1360 m), um dann über Stanzach und den Oberjochpass in Richtung Bad Hindelang zu fahren. Der Stau zuvor auf der B 179 hatte tatsächlich etwas Gutes, denn die Strecke durch das Namloser-Tal wurde zum ersten Highlight des Tages. Bis auf ein paar andere Motorradfahrer war überhaupt kein Verkehr.
Unmittelbar hinter Bichlbach ging die beeindruckende Kurvenfahrt auch schon so richtig los. Ein paar leichte Kurven zum Warmwerden und ab dann führte die Straße in schier endlosen Rechts- und Linkspassagen durch das Tal. Keine Kurve wurde überraschend eng, jede war schöner zu fahren als die andere. Knapp dreißig Kilometer Motorradschunkeln im Walzertakt, so kam es mir vor. Wer diese Straße, den Kelmer Sattel, noch nicht gefahren ist, hat wirklich etwas verpaßt. In Stanzach war diese beeindruckende Passage dann leider zu Ende.
Viel zu schnell, dachten wir. Es hätte Stunden so weiter gehen können. Aber was soll's, es war Zeit für eine Kaffeepause. Von Stanzach aus kann man dann links ins Lechtal abbiegen und würde dort dann das Hahntennjoch oder den Hochtannbergpass erreichen. Wir hielten uns jedoch rechts in Richtung Weißenbach und fuhren dann den Gaichtpass (1093 m) hinauf. Die Auffahrt war etwas anspruchsvoller als zuvor der Kemer Sattel, denn es ging über enge Serpentinen.
Die Kurven waren jedoch nicht das Problem, sondern hier war es wieder der ein oder andere unbeholfene Wohnmobilkapitän, der sein Gefährt als überbreit und überlang einstufte. Am Pass angekommen, erschließt sich vor einem das relativ weitläufige Tannheimer Tal und gleich dahinter der Oberjochpass (1178 m) - im Dritten Reich noch als Adolf-Hitler-Pass bezeichnet.
Der Oberjochpass bzw. dessen Abfahrt nach Bad Hindelang hatten es uns angetan. Ganze fünfmal "mußten" wir diese Straße fahren. Auf einer Strecke von knapp acht Kilometern winden sich ganze 107 Kurven rauf bzw. runter - einmalig in Deutschland. Einmalig für uns. Allerdings sollte man beim Start unbedingt darauf achten, daß man nicht gleich ein Auto vor sich hat, denn im Gegensatz zu den "Dosenfahrern" möchten wir die Kurven ja zügiger fahren. Die Straße bietet auf Grund ihrer Kurvenvielzahl naturgemäß nur ganz wenige Überholmöglichkeiten - also lieber etwas warten, bis die Strecke frei ist, der Fahrspaß ist wesentlich höher.
Oder eben mehrmals fahren, wie wir. Auch hier gilt: Wer diese Strecke nie gefahren ist, hat einiges verpaßt. Die Strecke wird übrigens auch als "Haarnadel-Boulevard" bezeichnet und war im vorigen Jahrhundert Austragungsort für das spektakuläre Jochrennen. Aktuell gibt es wieder das jährliche "Jochpass-Memorial".
Zum ersten Mal auf dieser Tour waren wir noch nicht froh, das Etappenziel erreicht zu haben - die Fahrt durch's Namlos-Tal und die spektakuläre Abfahrt nach Bad Hindelang machten einfach Lust auf mehr. Also blieben wir im Sattel und an statt im Hotel einzuchecken, passierten wir Bad Hindelang, fuhren weiter nach Sonthofen und bis Mittelberg ins Klein Walsertal.
Um es kurz zu machen: Die Landschaft war toll, die Ausblicke beeindruckend, aber der Fahrspaß, den wir zuvor erlebt hatten, war nicht mehr wiederholbar. Da der Himmel über'm Klein Walsertal plötzlich merklich grau wurde, zogen wir es vor, nach Bad Hindelang zu fahren. Bevor wir ins Hotel fuhren, hatten wir aber noch etwas zu erledigen:
Mein Vater war genau 50 Jahre zuvor als Fallschirmjäger in dieser Region stationiert und im Sommer 1960 war es in dieser Region zu einer Unwetterkatastrophe gekommen, bei der die Bundeswehr zu wochenlangen Rettungsarbeiten ausgerückt war. Jahre später, so mein Vater, soll im Ort dafür eine Gedenktafel aufgestellt worden sein - diese wollte ich finden und für meinen Vater fotografieren.
Wie das im Leben meist so ist, heilt die Zeit viele Wunden und jeder, der in Bad Hindelang von mir befragt wurde, zuckte nur mit den Schultern. Keiner konnte sich mehr daran erinnern. Dann kam ich auf die Idee, die örtliche Feuerwehr zu fragen. Wenn jemand etwas wissen müßte, dann doch wohl die Feuerwehr. Die nächste Wache war in Ortsteil Vorderhindelang.
Dort angekommen sahen wir, dass gerade die letzten Vorbereitungen für das am Abend stattfindende Feuerwehrfest im Gange waren. Ein paar ältere Feuerwehrmänner waren zugegen, die sich dann auch sofort an die Katastrophe erinnerten. Auslöser der Katastrophe war demnach damals ein Wildbach, der nach einem Unwetter über die Ufer getreten war und das halbe Dorf weggerissen hatte. Der Bach verlief genau hinter dem heutigen Feuerwehrgelände und, welch' eine Freude, dort fand ich neben einer Brücke auch die Gedenktafel.
Schließlich wurden wir zum Feuerwehrfest am Abend eingeladen; mehr noch: Man bot uns sogar an, uns mit einem Feuerwehrwagen am Hotel abzuholen. Das ließen wir uns nicht zweimal sagen...
Wir setzten uns abends beim "Spritzenfest" zu ein paar Einheimischen an den Tisch und kamen schnell ins Gespräch. Nachdem ich die Story meines Vaters erzählt hatte, ging einer der Herren nach Hause, um ein altes Fotoalbum zu holen. Als Kind hatte er die Katastrophe am eigenen Leibe miterlebt. Der Abend war - trotz des inzwischen heftigen Gewitters - sehr schön; sozusagen eine erzählte Führung durch die Geschichte von Bad Hindelang und der tollen Umgebung. Und das alles sitzend beim Bier und untermalt von der Musik der „Rotspitz-Büebe". Für eine solche Stadtführung gibt's die Note 1a von mir !